1987 haben Prostituierte, Ex-Prostituierte und Frauen aus anderen Berufen den Verein Kassandra gegründet.
Ihr Anliegen: Sie wollten sich gegen Diskriminierung und für die rechtliche Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigen einsetzen. Heute ist der Verein die einzige Selbsthilfeorganisation mit und für Sexarbeiter*innen in Bayern und Träger der gleichnamigen Fachberatungsstelle sowie einem Café und weiteren Projekten. Die Beratung ist anonym, kostenlos, mehrsprachig und die Mitarbeitenden sind an die Schweigepflicht gebunden. Seit 2015 ist Kassandra e.V. in der Nürnberger Südstadt beheimatet.
Wir haben mit Sozialarbeiterin Hedi Christ (34) über ihre Arbeit und die aktuelle Situation des Vereins gesprochen.
Hallo Frau Christ, vorab eine persönliche Frage: Wie kommt es, dass Sie bei Kassandra arbeiten, warum das Themenfeld Sex-Arbeit?
Hedi Christ: Ich setze mich gerne für Menschen ein, die nicht ins System passen – dieses Gerechtigkeitsempfinden haben mir meine Eltern mitgegeben. Ich komme aus einem christlichen Elternhaus, mir wurde mit auf den Weg gegeben, dass alle Menschen gleich sind und das gleiche Recht für alle gilt. Mein Jahrespraktikum im Rahmen des Studiums der Sozialen Arbeit habe ich bei Rampe e.V. absolviert. Meine damalige Kollegin Dorothea Ziemer-Riener, ist erste Vorsitzende von Kassandra und über sie kam ich dazu.
Wie sah Ihre Arbeit vor Corona aus?
Hedi Christ: Wir haben Sex-Arbeitende – es sind übrigens Frauen und Männer – bei allen Problemlagen beraten und unterstützt, sei es mit den Vermietern, beim Jobcenter, bei der Antragstellung auf Ämtern oder auch in Steuersachen. Ein großes Thema war – und ist mehr denn je – die berufliche Weiterqualifizierung, das heißt wir überlegen gemeinsam, welche Perspektiven es geben kann innerhalb der Sex-Arbeit, aber natürlich auch außerhalb.
Übrigens kommen in Nürnberg 90 Prozent der Sex-Arbeitenden aus dem Ausland, davon wiederum 80 Prozent aus osteuropäischen Ländern, vornehmlich aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn oder Tschechien. Die allermeisten wollen eigentlich nur kurz bleiben, um Geld zu verdienen und zum Beispiel die Familien in den Heimatländern zu unterstützen. Aber viele bleiben dann länger. Sie müssen sich dann hier mit der Sprache und der der neuen Kultur zurechtfinden, das ist sehr schwierig.
Wie hat Corona Ihre Arbeit verändert?
Hedi Christ: Der Beratungsbedarf ist sprunghaft angestiegen. Gerade in der ersten Welle war die Verunsicherung riesig: Darf ich arbeiten? Welche Auflagen gibt es? Welche Hygieneschutz-Konzepte müssen eingehalten werden, gibt es solche überhaupt? Vielen ging das Geld aus, denn dass man in dem Gewerbe viel verdient, ist ein Mythos. Wir mussten klären, welche Sozialleistungen beantragt werden können, wer überhaupt einen Anspruch hat und so weiter. Wir mussten sehr viel Aufklärungsarbeit leisten, weil die meisten der Sex-Arbeitenden wenig Medienkompetenz besitzen oder sogar Analphabeten sind.
An dieser Stelle muss ich unbedingt ein Lob loswerden: Sehr viele Betreiber von Bordellen und Clubs haben sich extrem sozial verhalten und von den Sex-Arbeitenden keine Miete verlangt während des Lockdowns. Ein Mitarbeiter des Straßenkreuzers hat zudem privat und rein aus Spenden finanziert Lebensmittel organisiert für die Betroffenen.
Wie ist die Situation jetzt?
Hedi Christ: Weil viele Kunden ausbleiben, wird die berufliche Neuorientierung vermehrt nachgefragt. Leider ist uns eine Stelle weggebrochen, weil der Freistaat das entsprechende Projekt nicht verlängert hat. Das ist natürlich fatal und erschwert unsere Arbeit zusätzlich. Aber unsere beiden Vorstandsfrauen Dorothea Ziemer-Riener und Luise Küffner kämpfen unermüdlich und leisten unglaubliche Lobby-Arbeit indem sie Gespräche mit
Frau Ziemer-Riener und Frau Küffner, was wäre denn das Wichtigste für Kassandra e.V. im Moment?
Küffner: Kassandra e.V. gibt es nun seit über 30 Jahren und wir sind die einzige Beratungsstelle in Bayern mit einer festen Stelle, die vom Bezirk Mittelfranken und dem Land Bayern finanziert wird. Alle weiteren Mitarbeitenden sind Projektstellen, das heißt, wir müssen immer schauen, ob Projekte verlängert werden oder neue Finanzierungsmöglichkeiten finden. Aber in dem Bereich – wie in allen Feldern der Sozialen Arbeit – ist Kontinuität und Vertrauen ungemein wichtig. Deshalb brauchen wir Gelder für feste Stellen.
Ziemer-Riener: Genau. Denn es ist wichtig, den Menschen, die am Rande der Gesellschaft verortet werden, eine Stimme zu geben. Wir dürfen nicht ÜBER die Betroffenen reden, sondern müssen MIT ihnen reden. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen in der Sexarbeit mit Respekt behandelt werden und der Wert ihrer Arbeit auch anerkannt wird.

Kassandra e.V.
Endterstraße 6
90459 Nürnberg
Tel. 0911 37 65 277
kassandra@kassandra-nbg.de
www.kassandra-nbg.de
Öffnungszeiten Beratungsstelle:
Mo/Di/Do 10 – 18 Uhr
Mi 10 – 12 Uhr, Fr 12 – 14 Uhr
Öffnungszeiten Café:
Di – Fr 14 – 18 Uhr